INGA KRISTIN RICKERT

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TEXTE von CATINGA RICARD und MARJELL MARIS


Schafe auf dem Bahnsteig

Catinga Ricard, 2022


Eine Gruppe von Menschen steht auf einem Bahnsteig und wartet auf einen Zug. Es ist ein kleiner Bahnhof in einer ländlichen Gegend mit nur zwei Gleisen. Für jede Richtung gibt es ein Gleis. Zu jedem Gleis gehört ein Bahnsteig, und um von dem einen Bahnsteig auf den anderen zu gelangen, muss man durch einen kleinen Tunnel gehen.

Die Bahn hat Verspätung, wie so oft. Die Leute werden langsam ungeduldig. Schon vor 15 Minuten sollte der Zug da sein, aber er kommt einfach nicht. Auch nicht nach 20 Minuten, nicht nach 30 und nicht einmal nach 40 Minuten. Inzwischen kommen schon die Leute auf den Bahnsteig, die mit dem nächsten Zug in diese Richtung fahren wollen. Es wird immer voller auf dem Bahnsteig. Die Leute stehen schon dicht an dicht und werden immer unruhiger und ärgerlicher. Sie hoffen, dass wenigstens die nächste Bahn pünktlich kommt. Aber sie hoffen vergeblich. Auf der Anzeigetafel lesen sie: „Zug fällt aus.“ Ein Raunen geht durch die Menge. Dann kommt eine weitere Anzeige: „10 Minuten Verspätung.“ Aufatmen und Ärger mischen sich. Also, auf den ersten Zug hat man vergeblich gewartet, aber der nächste kommt mit zehn Minuten Verspätung. Wenn er denn kommt. Die Spannung steigt.

Inzwischen sind die zehn Minuten vergangen und es ist weit und breit keine Bahn in Sicht. Weitere fünf Minuten vergehen, ohne dass die Anzeigetafel den Leuten etwas verrät. Plötzlich sagt jemand: „Der Zug kommt auf dem anderen Gleis!“ Ein Ruck geht durch die Menge und alle marschieren starren Blickes los, die Treppe zum Tunnel runter, durch den Tunnel und die Treppe zum anderen Gleis wieder rauf. Niemand wundert sich, dass die Bahn dort abfahren soll, wo normalerweise die Züge in die andere Richtung fahren. Nun stehen sie alle dort und starren stumpfsinnig-gespannt und ärgerlich-hoffnungsvoll den Gleisweg hinunter.

Alle stehen sie da auf dem anderen Bahnsteig, alle, bis auf einen Mann und eine Frau, die sich zuvor nicht kannten. Jetzt kommen sie ins Gespräch, erst mit den Augen grinsend, dann mit kopfschüttelnden Worten. Die Frau sagt lachend zu dem Mann: „Das hat irgendwie Ähnlichkeit mit einer Schafherde.“ Der Mann nickt und lacht ebenfalls, aber aus seinem Lachen klingt auch etwas wie Fassungslosigkeit heraus. Die beiden schauen zu der Menschenmenge hinüber, die jetzt genauso dicht gedrängt auf dem falschen Bahnsteig steht wie zuvor auf dem richtigen und immer noch stur in die Richtung starrt, aus der die Bahn kommen müsste.

Doch jetzt hört man das Geräusch eines herannahenden Zuges. Tatsächlich, die lang erwartete Bahn kommt endlich an. Allerdings kommt sie dort, wo sie ursprünglich kommen sollte – dort, wo nur noch die zwei einzelnen Menschen stehen, die nicht mit der Schafherde mitgelaufen sind.

Amüsiert sehen die beiden noch, wie die Menge auf dem anderen Bahnsteig ungläubig guckt, Sekunden zum Verstehen braucht und dann anfängt zu laufen. Jeder will jetzt der erste sein, einige boxen sogar mit Ellenbogen die anderen weg. Doch alles hilft nichts, keiner schafft es noch rechtzeitig.

Die Bahn fährt ab. Drin sitzen der Mann und die Frau, die auf dem richtigen Bahnsteig geblieben sind, und freuen sich in stillem Einvernehmen, dass sie kein Teil der Schafherde sind.




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