INGA KRISTIN RICKERT

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TEXTE von CATINGA RICARD und MARJELL MARIS


Rücklichter

Catinga Ricard, 2015/2023


Ivy starrte in den halbleeren Kaffeebecher, den sie zwischen ihren Händen hielt, und horchte auf die Stille, die sich inmitten der tosenden Welt ausbreitete. Eine Weile hatten sie und Arno sich unterhalten, gut sogar, unerwartet gut. Über die Arbeit, das Wetter und darüber, dass sie beide müde waren. Solche Dinge eben. Doch jetzt fiel ihnen nichts mehr ein. Außer etwas, über das sie besser nicht reden wollten.

Ivys Blick ging zur Uhr. „Oh, es ist schon spät“, sagte sie, halb erfreut und halb enttäuscht. „Ich muss los, ich hab noch einen Termin.“

„Ja, es ist schon spät“, erwiderte Arno und nahm hastig einen Schluck Kaffee.

Seine Hand lag nur wenige Zentimeter entfernt von ihrer auf dem Tisch. So nah und doch so fern. Früher hatte er ihre Hand genommen, oder sie seine. Heute war da eine kleine unsichtbare Mauer auf dem Tisch, ganz genau dort, wo sich ihre Hände treffen könnten.

Verstohlen forschend sah Ivy Arno an. Sag doch etwas, dachte sie. Oder sieh mich wenigstens an, starr nicht in deinen Kaffee. Auch nicht aus dem Fenster. Auch nicht auf dein Handy. Hey, hallo, hier bin ich. Du musst dich nicht verstecken. Merkst du nicht, dass so alles nur noch schlimmer wird?

Aber im Grunde war es besser so. So musste sie nichts tun, was am Ende wieder dazu führen würde, dass sie genauso dasitzen, verkrampft unverkrampft und annähernd unnahbar, gleichzeitig hoffend und bangend, der andere möge seine Worte wiederfinden.

Arno sah Ivy nicht an, während sie in seinem Gesicht las wie in einem handgeschriebenen Brief. Viele Passagen darin waren verborgen von den Spuren der langen Reise, aber das Wichtige war groß und deutlich lesbar. Was da stand, gefiel ihr, meistens jedenfalls. Doch sie durfte nicht mehr darauf eingehen. Schon zu oft hatte sie das getan. Es wäre nicht fair, es war nicht fair. Und inzwischen war der Brief durch all das, was gesagt worden war, für Ivy ohnehin nur noch schwer zu entziffern. Vielleicht beabsichtigte Arno das. Vielleicht, um sich selbst ein bisschen besser und sicherer zu fühlen, indem sie sich ein bisschen schlechter und unsicherer fühlte.

Egal. Ivy schüttelte kaum merklich den Kopf. „Ich muss jetzt los“, wiederholte sie.

„Ja, ich auch“, entgegnete Arno mit einem leisen Seufzen, das er durch betont eiliges Aufstehen zu übertönen suchte. Schweigend gingen sie zu zweit allein hinaus.

„Man sieht sich?“

„Genau.“

Wie immer.

Und wie so oft konnte Ivy nicht anders.

„Hey, weißt du eigentlich, dass es unhöflich ist, seinen Gesprächspartner nicht anzusehen?“, rief sie Arno mit einem schiefen Grinsen hinterher. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Auf einmal war der Brief wieder ganz klar. Hastig sah Arno weg und stieg in sein Auto.

„Fahr vorsichtig“, rief Ivy ihm nach, während sie sich zum Gehen wandte.

Wie immer fuhr er nicht gleich los, sondern stand noch eine Weile da, während sie die Straße hinunterging. Sie drehte sich nicht um. Das wäre nicht fair.

Langsam fuhr er schließlich an ihr vorbei. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie seine Rücklichter, wie sie in der Ferne immer kleiner wurden. War da ein Blick im Rückspiegel? Ivy glaubte, so etwas gesehen zu haben. Aber vielleicht war es nur ihr eigener Wunsch, den sie dort sah.

Plötzlich hielten die Rücklichter an, blieben einen Moment stehen, als wüssten sie nicht, wohin sie wollten. Dann setzten sich wieder in Bewegung, aber nicht von Ivy weg, sondern auf sie zu. Langsam, zögerlich, aber zielstrebig kamen sie näher. Ivy blieb stehen, wartete nur ab. Was hatte das zu bedeuten?

Nun waren die Rücklichter angekommen. Das Auto hielt mit einer für diese Geschwindigkeit unnötig quietschenden Bremsung, die den Schlamm von der Straße spritzen ließ. Ivy konnte gerade noch zurückspringen. „Was soll das denn jetzt?“, rief sie empört.

„Oh, sorry“, kam es betreten aus der sich öffnenden Fahrertür zurück. Umständlich langsam schälte sich Arno aus dem Auto, um dann die Tür in Zeitlupe zu schließen. Dabei ertönte erst ein lautes „Platsch“ und anschließend ein Fluchen. Arno war selbst in eine große Matschpfütze getreten. Ivy musste sich das Lachen verkneifen. Eigentlich war ihr gar nicht lustig zumute, eher war sie allmählich etwas genervt. Da stand Arno, bis zu den Knien mit Schlamm bespritzt, starrte sie an und sagte wie immer nichts.

„Was ist denn jetzt?“, fragte Ivy ungeduldig. Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen. Oder doch? „Ich muss weiter, ich habe einen Termin“, fügte sie noch schnell an.

Schweigen, Zögern. Dann ein Murmeln: „Ich fahr dich hin.“

Einen Moment lang schaute Ivy prüfend in den Brief, doch im Nieselregen und der beginnenden Dunkelheit war er nicht zu erkennen.

Nein, es wäre nicht fair. Wieder sagte Ivy sich diesen Satz. So oft hatte sie ihn sich gesagt, dass sie ihn allmählich wirklich glaubte. Es wäre nicht fair. Nicht fair ihr selbst gegenüber.

Ivy straffte die Schultern. Jetzt oder nie, diese eine Chance noch, und sonst nie wieder.

Immer noch stand Arno schweigend wartend an seinem Auto.

„Was ist jetzt?“, wiederholte Ivy mit fester Stimme. „Ich meine, was ist mit uns?“

So, nun hatte sie endlich diese eine Frage ausgesprochen, die sie niemals aussprechen wollte. Sie sah weg und suchte zugleich Arnos Augen. Es schien, als täte er dasselbe. Oder war das wieder nur Einbildung?

Tick, tack. Eine kleine leise Stimme in Ivys Innerem begann, den Countdown zu zählen. Drei, zwei, eins... Arno hörte das nicht. Und wenn, hätte es wohl auch nichts geändert. Er blieb in seinen Schutzschild des Schweigens gehüllt.

Was hatte Ivy erwartet? Sie kannte Arno doch schon so lange. Und doch, sie hatte gehofft. Enttäuschung, Wut und irgendwie auch das erleichterte Gefühl von Freiheit machten sich in ihr breit.

„Also, dann“, murmelte sie und wandte sich zum Gehen.

Sie fühlte, wie seine Blicke ihr folgten, während ihre Schritte schneller wurden. Nicht mehr zurücksehen. Nicht mehr warten. Nicht mehr sinnlos hoffen. Nach vorne gehen. In die Zukunft schauen. Fair zu mir selbst sein.

Ivy sprach schon laut vor sich hin, so sehr war sie damit beschäftigt, sich zum Weitergehen, zum Weggehen zu bewegen. Noch ein paar Schritte bis zur rettenden Straßenecke. Da vernahm sie auf einmal neben sich ein bekanntes Motorengeräusch und den Schein von Rücklichtern, die erneut neben ihr anhielten.

Weiter einen Fuß vor den anderen setzen. Nicht anhalten, nicht zurückgehen. Doch da war auch Neugier, und ein letzter Funke Hoffnung glimmte tapfer vor sich hin. Ivy sah nicht hin, aber horchte.

Und tatsächlich, eine vertraute Stimme erklang aus dem geöffneten Wagenfenster. Vertraut, ja, aber so ehrlich und vernünftig hatte diese Stimme zuvor noch niemals gesprochen.

„Ja, es war nicht fair. Von keinem von uns. Lass uns ab jetzt fair sein. Ich bin hier. Bleibst du?“




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