INGA KRISTIN RICKERT

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TEXTE von CATINGA RICARD und MARJELL MARIS


Rübezahl, die Ratte

Catinga Ricard, 2007


„Guten Tag, mein Name ist Rübezahl, und in meiner Toilette züchte ich Verbandsstoff.“

Dies waren die Worte einer schmächtigen Schiffsratte, die gähnend auf einer Holzplanke saß und an einer staubigen Salzbrezel nagte. Rübezahl hatte schon viel durchgemacht, bevor er sich nun neben einem Schornsteinfeger auf der Tragfläche eines Hochgeschwindigkeitszugs sitzen sah und sich durch einen Pfeifhahn anhören musste, wie dieser seltsame Geselle sich rühmte, ein Wüstendurchwanderer zu sein.

Die langsam entstehende Verkalkung im Gehirn der Schiffsratte verschleierte ihr den Geruch des Ratatouilles, der raschelnd aus den Turnschuhen des Schornsteinfegers kroch. Währenddessen erzählte dieser klappernd vor Kälte, wie er auf einem Fleckenteppich durch ein Haifischbecken gereist war, begleitet von einem Strohengel, der ihm immer wieder versicherte, er habe sich nicht aus einem Retortenbaby und einem Erdapfel selbst erschaffen. Weiter berichtete er, wie leicht es gewesen sei, mit seinem Fliegenpo durch das Bullauge zu schwimmen, jedoch sei er als geborener Leisetreter sehr überrascht gewesen, als ihm auf der anderen Seite aus einem Lautsprecher entgegentönte, er solle seine Schubberkachel sofort wegwerfen, denn er stünde nun im Rampenlicht.

Das alles interessierte Rübezahl, die Schiffsratte, wenig bis gar nicht, und er sehnte sich nach seiner alten Freundin, der Schiffskatze, mit der er früher gemeinsam die Brückenkletterer durch die Dunstabzugshaube gejagt hatte. Doch die Schiffskatze hatte vor zwei Jahren einen Nasenbären aus Ohio geheiratet, der sich als Tulpenzüchter und Freizeitganove betätigte. Von da an war Rübezahls Leben einsam geworden.

Rübezahl und die Schiffskatze hatten bis dahin zusammen auf einem alten Piratenschiff gewohnt, doch kurz nachdem die Schiffskatze ihn verlassen hatte, gab es das nächste Drama in Rübezahls Leben - das Schiff wurde durch einen Toiletteneimer gesaugt. Ein Weltverbesserer hat noch versucht, es mit seiner Klobürste wieder herauszupolken, aber vergeblich. Doch Rübezahl hatte Glück im Unglück. Durch das Herumpolken entstand ein Luftwirbel, der ihn aus dem Toiletteneimer herausschleuderte, und dank eines glücklichen Zufalls landete er direkt auf einer Schwimmbibel. Darauf trieb er dann über den Ozean, bis er irgendwann an einem fremden Ufer ankam. Kaum an Land, begegnete Rübezahl eine Fliege mit Krawatte, die ihm riet, einen Kaufmannsladen mit integriertem Postamt zu eröffnen. „Aber ich bin doch eine Schiffsratte“, sagte Rübezahl erstaunt und wenig begeistert. „Das macht nichts“, antwortete die Fliege, während sie mit einem Blumenstrauß ihr Pferdchen streichelte, „lies einfach die Schwimmbibel, da steht alles drin.“

Rübezahl tat, wie ihm gesagt wurde, denn er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Er eignete sich nun einmal nicht für Nahkampf mit Rückwärtsfahrern oder Schattenboxen mit Schiedsrichtern, und andere Möglichkeiten gab es nicht für gestrandete Schiffsratten, die in ihrer Jugend als Saxophonspieler für Schiefsänger gearbeitet hatten.

Gemeinsam mit einem Fahnenflüchtling und einem Leierprediger eröffnete Rübezahl also den Kaufmannsladen, in dem neben Apfelmus und Herbstlaub auch Sauberpuschler, Milbenfresser und Feuermelder verkauft wurden. Das Geschäft lief gut, bis eines Tages auf einer Überlandleitung ein Langfinger mit Gänsefüßchen ins Dorf kam, der sein Nachtlager für Späteinschläfer direkt vor Rübezahls Kaufmannsladen einrichtete und mit seinem Zitronengesicht die Frühblüher vertrieb.

Rübezahl verließ daraufhin das Dorf, im Gepäck nur ein Drahtseil, eine Schnirkelschnecke und die Schwimmbibel. Er schlief im Schweinestall und freundete sich mit einem Radiologen an, der mit dem Fußring eines Kredithais an der Zapfsäule der Straßenreinigung festgekettet war. Und schließlich sprang er auf einen vorbeifahrenden Hochgeschwindigkeitszug, auf dessen Tragfläche bereits ein Schornsteinfeger im Schutzanzug saß. Dieser hatte wenig Verständnis für die arme Schiffsratte und empfahl Rübezahl, sich in seine Schnurrhaare eine Dauerwelle zu machen, so wie er selbst es mit seinem Schnurrbart täte.

Das reichte Rübezahl nun, er bastelte sich aus der Schnirkelschnecke und dem Drahtseil einen Fallschirm und sprang. Nach kurzem Flug landete er auf der Husse eines Paarhufers, sagte freundlich „Guten Tag“ und taumelte entlang der Balkonbrüstung in die nächste Kaltfront, nicht ahnend, dass nur ein paar hundert Kilometer weiter ein Motorradfahrer eine Katastrophe verursachte, indem er die Treppenstufen eines Vulkans hinabfuhr und, unten angekommen, ein Seebeben auslöste. Der Schuldige war kurz darauf Fischfutter, denn Walfänger jagten in einem Motorboot Krähen, die Walgesänge imitierten, und achteten dabei nicht auf den Motorradfahrer, dessen Fingerkuppe sich im Bootsmotor verfing.

Rübezahl, die Schiffsratte, saß fernab dieses Geschehens unter einer Palme und las in der Schwimmbibel, wie Noah aus einer Eisscholle seine Arche baute.




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